„Ja, das ist Kunst“, über Katrin von Egidy

Andrea Dreher – Kunsthistorikerin:

Das Werk des vor 100 Jahren geborenen Universalkünstlers Joseph Beuys wird Republik weit im Jahr 2021 in vielen Ausstellungen und Publikationen gefeiert. Beuys war Künstler, Sozialphilosoph, Politiker, Anthroposoph und Lehrer, er performte und redete, er inszenierte und polarisierte. Fakt ist, dass aufgeklärte Gesellschaften Künstler wie Beuys brauchen, charismatische Menschen also, die wachrütteln und die dabei zugleich viele Menschen erreichen. „Die Freiheit ist das Anwachsen des menschlichen Bewusstseins“ lautet eines der vielen klugen Statements des Krefelder Künstlers Joseph Beuys.


Auch die Dresdener Künstlerin Katrin von Egidy appelliert an die Freiheit in unseren Köpfen, welche niemals einen Status Quo erreichen darf, sondern die täglich neu gedacht und gelebt werden muss. Im Gespräch mit der Künstlerin spürt man sofort den unbedingten Handlungswillen dieser Frau. Die Erfahrungen mit ersten eigenen Ausstellungen beschreibt sie unter anderem mit den Worten „als ob die Leute durch meinen Kopf marschieren“.


Katrin von Egidy will mit ihren Objektkästen keineswegs nostalgisch verkapptes Storytelling betreiben, sondern sie bedient sich bewusst dieses narrativen Elements, um gesellschaftsrelevanten Themen im wahrsten Sinne eine Bühne zu bereiten. Ihre Akteur*innen sind exakt inszeniert und deren Aktionsraum ist von der Künstlerin klar
definiert. Katrin von Egidys kleine Kunstwerke wollen weit mehr als unsere Betrachtung anregen, denn sie suchen die Interaktion mit uns. Was auf den ersten Blick spielerisch daherkommt, kann auf den zweiten Blick echte Diskurse über
tradierte Rollenmuster und Gesellschaftsverhältnisse auslösen, sofern wir uns individuell auf dieses „Spiel“ einlassen.


Dass Katrin von Egidy über viele Umwege zur Kunst kam, ist keineswegs ein Manko, sondern die logische Folge der Biographie einer willensstarken Frau, deren Kindheit von ihrem regimetreuen Elternhaus in der ehemaligen DDR geprägt war. Märchen, Kinderbücher und Zigarettenalben mit historischen Bildmotiven des Großvaters
bezeichnet die Künstlerin rückblickend als „rettende Anker“ ihrer Kindheit. Mit der frühen Liebe zu schönen Dingen und zu schönen Geschichten hatte Katrin von Egidy ihren inneren Speicher gefüllt. Heute spricht sie von ihrem mentalen und emotionalen Zuhause, das über Jahre ihr persönlicher Schatz war und den sie nun (endlich) materialisieren müsse.


Manchmal geschieht es mitten in der Nacht, „dass ein Kasten drängt“, so die Künstlerin, die dann die Nacht zum Tag macht, um die Dinge miteinander sprechen zu lassen. Katrin von Egidy erhebt allerdings keinen pädagogischen Zeigefinger, sie will uns keine Lesart aufzwingen, sondern sie vertraut darauf, dass die Kraft ihrer Symbolsprache und die Ehrlichkeit der verwendeten Mittel so inspirierend sind, dass sie individuelle Lesarten generieren. Natürlich spielt die Betrachter-Perspektive stets eine Rolle, denn es macht einen großen Unterschied, ob wir als Erwachsene oder als
Kinder, als Frauen oder Männer von Egidys Objektkästen betrachten. Im Idealfall schaffen es ihre kleinen Inszenierungen jedoch, uns aus unseren gesellschaftlichen Rollen zu lösen und in spontane Begeisterung ausbrechen zu lassen. Ein erklärtes Ziel dieser Objektkunst ist es, Sichtbares mit Imaginärem zu verweben und so neue „Erlebnis- und Gedankenräume“ zu eröffnen.


„Manchmal gibt es auch Monate ohne Kästen“, sagt von Egidy, und bezeichnet diese vermeintliche Ruhe als existenzielle Wachstumsphase. Erst in einem zweiten Schritt legt sie dann die Größe und Materialität des jeweiligen Objektkastens fest, bevor dann in der dritten Phase die formale Vollendung, also der „handwerkliche“ Teil folgt.
Hierbei profitiert die Künstlerin nach eigenem Bekunden auch von ihrer Berufserfahrung als Ergotherapeutin mit dem Schwerpunkt auf neurologischer Wahrnehmung.


Wir leben in einer Zeit der digitalen Reizüberflutung, in der zwar alles „online“ verfügbar ist, in der sich aber analoge Defizite nachweislich häufen. Vielen Menschen fehlt inzwischen das persönliche Gespräch, viele Menschen sehnen sich
nach haptischen Erfahrungen (zumal in Zeiten der Pandemie), und nicht wenige Menschen sind mittlerweile sensomotorisch blockiert. Deswegen kommt die Kunst Katrin von Egidys genau zur richtigen Zeit, denn sie bildet eine Brücke zu den Bildgeschichten des vergangenen Jahrhunderts, als Kunst regelmäßig antrat,
Menschen für „das Andere“ zu sensibilisieren und die Gesellschaft zu verändern. Begeben wir uns auf die Suche nach kunsthistorischen Wurzeln, so landen wir bei der Kunst des Surrealismus, wo das „Wunderbare“ und die Bildmethode der Kombinatorik Impulsgebend waren. Kombinatorik ist ein Verfahren der Befreiung von vorgefertigten Bildern, welches nicht Zusammengehöriges in einen neuen Kontext gestellt wird, mit dem Ziel, Wirklichkeit zu entfremden und Unbewusstes ans Tageslicht zu fördern.


1936 erregte Meret Oppenheims „Frühstück im Pelz“ – eine Kaffeetasse mit Untertasse und Löffel, überzogen mit Gazellenfell – für großes Aufsehen in der Pariser Galerie Ratton. Oppenheim stand zwar lange im Schatten der von Männern dominierten Surrealisten-Szene, ließ sich aber nie vereinnahmen. „Jeder Einfall wird geboren mit seiner Form. Ich realisiere die Ideen, wie sie mir in den Kopf kommen. Man weiß nicht, woher die Einfälle einfallen; sie bringen ihre Form mit sich. So wie Athene behelmt und gepanzert dem Haupt des Zeus entsprungen ist, kommen die
Ideen mit ihrem Kleid“, beschrieb die 1985 verstorbene Meret von Oppenheim ihren künstlerischen Weg und scheint mit dieser Selbstanalyse eine direkte Wegbereiterin für Katrin von Egidy zu sein.


Die Dresdenerin suchte bzw. brauchte jedoch weder Vorbilder noch kunsthistorische Bezüge und Verankerungen. Dennoch lässt sich ihre Objektkunst sehr überzeugend in einen spannenden historischen Kontext einfügen. Menschen wie Katrin von Egidy liefern den Beweis, dass lineares Denken und strukturiertes Handeln nicht die Ultima Ratio sein muss, sondern dass Kunst auch bedeuten kann, lebenslang zu lernen und in der Folge mit großem Können und Engagement überzeugende Perspektivwechsel zu wagen.

Andrea Dreher

Kunsthistorikerin Ravensburg, Januar 2021